* 21 *

21. Die Schaflande
Spürnase

Die Dämmerung brach an, als Donner um die letzte Biegung des mit Schiefergeröll übersäten Pfads stolperte, und Jenna sah zu ihrer Freude, dass sie endlich die Grenze der Ödlande erreicht hatten. Stanley sagte nichts. Er klammerte sich an den Rand des Sattels und kniff die Augen zusammen, fest davon überzeugt, dass sie jede Sekunde vom Weg abrutschten und in den Abgrund stürzten.

Jenna hielt einen Augenblick an und ließ den Blick über die weite Grasebene der Schaflande gleiten, die sich vor ihnen erstreckte. Es war ein schöner Anblick, und sie fühlte sich an ihren ersten Morgen bei Tante Zelda erinnert, als sie nach dem Aufstehen auf der Türschwelle gesessen, in die Runde geblickt und den Geräuschen der Marschen gelauscht hatte. Am fernen Horizont verriet ein rosig schimmerndes Wolkenband, wo die Sonne aufging, doch auf den Wiesen selbst lag noch das stumpfe Grau der frühen Dämmerung. Nebelschwaden hingen über den Bächen und sumpfigen Stellen der Wiesen, und eine friedliche Stille erfüllte die Luft.

»Wir haben es geschafft, Donner«, sagte Jenna lachend und tätschelte dem Rappen den Hals. »Wir haben es geschafft, mein Junge.«

Der Rappe schüttelte den Kopf, schnaubte und sog die salzige Luft ein, die vom Meer jenseits der Schaflande herüberwehte. Jenna führte ihn zu einem breiten Grasstreifen und ließ ihn frei, damit er weiden konnte. Stanley war unterdessen von Müdigkeit überwältigt worden. Er lag auf dem Sattel und schnarchte laut.

Jenna setzte sich an den Wegrand und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Schieferfelsen. Sie hatte einen Bärenhunger. Sie stöberte in Simons Satteltasche und fand einen altbackenen Brotlaib, eine kleine Büchse Dörrobst und einen ziemlich angedatschten Apfel. Sie aß alles auf und trank dazu eiskaltes Wasser aus einer Quelle, die am Fuß des Felsens sprudelte. Dann saß sie da und beobachtete, wie der Nebel sich langsam lichtete und den Blick auf runde wollige Schafe freigab, die überall auf den Weiden grasten.

Die friedliche Stille, die nur durch das gleichmäßige Mampfen des Rappen und den gelegentlichen Ruf eines einsamen Sumpfvogels gestört wurde, machte sie sehr schläfrig. Sie versuchte, gegen die Müdigkeit anzukämpfen, doch vergebens. Nach einer Weile wickelte sie sich in Lucys Mantel und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Im selben Augenblick, als Jenna einschlief, erwachte Simon. Er setzte sich in seinem Bett auf. Alles tat ihm weh. Er war gereizt und wusste nicht recht, warum. Dann fiel es ihm wieder ein. Jenna. Er hatte Jenna entführt. Er hatte es getan – getan, was von ihm verlangt worden war. Mein Meister wird zufrieden sein, dachte er und stieg aus dem Bett. Dennoch hatte er ein ungutes Gefühl in der Magengrube, das nicht weggehen wollte. Denn jetzt galt es, den zweiten Teil seines Auftrags auszuführen. Er musste Jenna in den Magog-Bau hinunterbringen. Er schlurfte ins Observatorium hinüber und dabei fiel ihm auf, dass Spürnase nicht auf seinem Posten vor seiner Schlafzimmertür war.

»Spürnase!«, brüllte er zornig und in der Erwartung, dass der Ball sofort angehüpft kommen würde. »Spürnase!« Er erhielt keine Antwort. Noch gereizter tappte er barfuß über den kalten und feuchten Schiefer, um mit einem Glas Nekawa seine Nerven zu beruhigen. Vorsichtig goss er eine schmutzig braune Flüssigkeit, in der Schimmelschlieren schwammen, in ein großes Glas, schlug ein rohes Ei hinein und stürzte alles hastig hinunter. Es schmeckte grauenhaft.

Etwas wacher sah er sich suchend in der Schieferkammer um. Wo steckte bloß dieser Spürnase? Es würde ihm noch leid tun, dass er seinen Posten verlassen hatte. Sobald er ihn gefunden hatte, würde er dafür sorgen, dass ...

»Zum Donnerwetter! Was ist denn hier los?« Er rannte zur Zellentür. Eine Tafel Schokolade, ungefähr von Jennas Größe, lag auf dem Boden, und er brauchte die Tür nicht zu öffnen, um zu wissen, dass die Gefangene nicht mehr in der Zelle war. Er tat es trotzdem, wobei er die Tür so wütend aufriss, dass sie mit einem lauten Knall gegen die Wand flog und in tausend Stücke allerbester Schokolade zersprang.

Er fluchte. Alle seine Hoffnungen zerstoben beim Anblick der leeren Zelle. Er warf sich auf den Boden und hatte ein paar Minuten lang das, was seine Mutter einen Tobsuchtsanfall zu nennen pflegte, dann stand er wieder auf und überlegte. Jenna konnte noch nicht weit sein. Er würde ihr Spürnase mit einem Brandmarker nachschicken.

»Spürnase!«, brüllte er wütend aus vollem Hals. »Spürnase! Wenn du jetzt nicht sofort herauskommst, wird es dir noch leid tun. Sehr leid tun!«

Immer noch keine Antwort. Simon stand im stillen Observatorium und grinste in sich hinein. Jetzt wusste er, was geschehen war: Jenna hatte Spürnase mitgenommen. Die dumme Göre dachte, Spürnase sei nichts weiter als eine praktische Lampe. Bestimmt waren die beiden unten in der Höhle. Ein merkwürdiges Geräusch störte ihn in seinen Überlegungen. Es kam aus der Glühraupentonne. Er ging hinüber und fand den Deckel verschlossen. Das war merkwürdig. Er konnte sich nicht entsinnen, die Tonne verschlossen zu haben. Eigentlich machte er sich nie die Mühe, die Glühraupen einzusperren, denn sie waren viel zu verängstigt für einen Fluchtversuch. Wo hatte er nur den Schlüssel hingetan? Und was war das für ein Geräusch? Er legte das Ohr an die Tonne und horchte. Keine Frage, da hüpfte etwas. Hüpfte? Spürnase!

Er gab die Suche nach dem Schlüssel auf, holte eine Brechstange, setzte sie am Deckel an und stemmte ihn auf. Spürnase schoss heraus wie ein Korken aus einer Flasche, und mit ihm Hunderte klebrige Glühraupen, die auf Simon niederregneten.

»Aber natürlich!«, schrie Simon. »Das ist es! Jetzt geht es ihr an den Kragen. Du musst Jenna markieren, Spürnase. Los.« Simon schleuderte den klebrigen grünen Ball quer durchs Observatorium und lief ihm nach, als er, am Totenkopf vorbei, durch den Bogengang dotzte und dann die lange steile Treppe hinunterhüpfte. Bald gelangten sie an den Fuß der Treppe, rutschten auf dem Magog-Schleim weg und hasteten durch den Tunnel, der zur ehemaligen Wurmkammer führte.

»Sie muss hier unten sein, Spürnase«, keuchte Simon, als sie sich der Wurmkammer näherten. »Hier unten ängstigt sie sich zu Tode. Vielleicht hat sie auch schon Bekanntschaft mit einem netten Magog gemacht. Mir soll’s recht sein. Das würde mir einige Mühe ersparen, Spürnase. He ... pass doch auf, du dummer Ball.« Simon duckte sich, um Spürnase auszuweichen, der plötzlich zurücksprang. »Dort geht es hinein, verstanden?«, brüllte er. »Wir haben jetzt keine Zeit für solche Mätzchen.« Spürnase versuchte es wieder, prallte aber ab und flog Simon gegen die Nase. Wutentbrannt packte Simon den Ball und trat in die Wurmkammer – und direkt auf die dicke schleimige Haut eines Landwurms.

Entsetzt sprang er zurück. Was war geschehen? Wie um alles in der Welt war der Landwurm hereingekommen? Und dann durchzuckte ihn ein fürchterlicher Gedanke.

»Mein Pferd!«, schrie er. »Er hat mein Pferd gefressen!«

Jenna schreckte aus dem Schlaf hoch und fröstelte. Schwerfällig setzte sie sich auf und sah, dass sie von neugierigen Schafen umringt war, die um sie herum grasten. Sie stand auf und streckte sich. Sie hatte genug Zeit mit Schlafen vergeudet. Sie musste schleunigst hier verschwinden und irgendwie versuchen, zu Tante Zelda zu gelangen. Sie stieg in den Sattel, auf dem Stanley immer noch schnarchte.

»Stanley«, sagte sie und rüttelte ihn wach.

»Wo ... wo?«, stammelte die Ratte, öffnete halb die Augen und sah Jenna verschlafen an.

»Stanley, ich möchte, dass Sie Tante Zelda eine Nachricht überbringen. Sie wissen doch, wo sie wohnt und ...«

Abwehrend hob Stanley die Pfote. »Wenn ich an dieser Stelle gleich einhaken darf. Nur damit kein Missverständnis aufkommt: Ich überbringe keine Nachrichten mehr. Unter keinen Umständen werde ich die Aufgaben einer Botenratte wahrnehmen. Nach der unerquicklichen Geschichte mit der Außergewöhnlichen hat man mir die Lizenz entzogen, und ich verspüre nicht den geringsten Wunsch, mich jemals wieder als Botenratte zu betätigen. Niemals. Nein, Sir, ich meine, Madam.«

»Aber morgen ist Mittsommer, Stanley, und ich ...«, protestierte Jenna.

»Wenn Sie glauben, ich gehe noch einmal in diese verflixten Marschen, haben Sie sich geschnitten. Es war ein Wunder, dass ich die letzte Reise überlebt habe. Wenn ich nur an die Marschpython denke, die mich mit Blicken verschlungen hat, oder an die hinterhältigen Braunlinge, die mit ihren spitzen Zähnen nach meinen Füßen schnappten. Ganz zu schweigen von dieser Heulboje von Marschheuler, die mir die ganze Zeit gefolgt ist und das Ohr voll gejammert hat, dass ich fast um den Verstand gekommen bin. Eine grausige Gegend. Warum eine kultivierte junge Dame wie Sie jemals wieder einen Fuß in diesen Höllenschlund setzen will, ist mir ein Rätsel. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf ...«

»Heißt das ›nein‹?«, seufzte Jenna.

»Ja. Das heißt, nein. Ich meine, ›ja‹ heißt ›nein‹.« Die Ratte setzte sich im Sattel auf und schaute sich um. »Ein schönes Fleckchen Erde, nicht?«, sagte sie. »Als ich noch klein war, war ich mit meiner Mama öfter in den Ferien hier. Verwandte von uns leben in den Kanälen, die aus den Marschen zum Meer führen. Am Strand gibt es herrliche Sanddünen, und per Anhalter ist man ruck zuck in Port. Zum Beispiel mit einem Eselskarren ...« Stanley erschauderte. »... oder vielleicht doch lieber mit einem schnellen Pferd. Als Teenager haben wir manchmal Port unsicher gemacht. Eine schöne Zeit. Dort leben jede Menge Ratten. Sie können sich nicht vorstellen, was da los war. Einmal...«

»Stanley«, sagte Jenna, in deren Kopf ein Gedanke Gestalt annahm, »dann kennen Sie also den Weg nach Port?«

»Selbstverständlich«, erwiderte er entrüstet. »Als Angehöriger des Rattengeheimdienstes kann ich Sie überall hinbringen, darauf können Sie sich verlassen. Ich bin so gut wie eine Karte. Was sage ich? Noch besser als eine Karte. Ich habe alles hier drin, verstehen Sie?« Er tippte sich an den Kopf. »Ich kann überallhin, jawohl.«

»Nur nicht in die Marram-Marschen«, bemerkte Jenna.

»Richtig. Das ist Sache der Marschlandspezialratten. Selber schuld, die Jungs. Wie gesagt, ich persönlich setze keinen Fuß mehr in diese verderblichen Sümpfe.«

»Aha«, sagte Jenna und gab Donner einen sanften Stoß mit den Fersen. »Lauf!«

»Bitte«, sagte Stanley, »wenn Sie so darüber denken.« Er hüpfte aus dem Sattel und landete etwas ungelenk im Gras.

Jenna zügelte das Pferd.

»Was tun Sie denn, Stanley?«, fragte sie.

»Was Sie mir gesagt haben«, brummte er mürrisch. »Ich laufe.«

Jenna lachte. »Quatsch, ich habe doch das Pferd gemeint. Steigen Sie wieder auf.«

»Ach so, und ich dachte, Sie sind mir böse, weil ich Sie nicht in die Marschen bringen will.«

»Seien Sie nicht albern, Stanley. Steigen Sie wieder auf und zeigen Sie mir den Weg nach Port. Vor dort aus weiß ich dann, wie ich zu Tante Zelda komme.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja. Bitte, Stanley.«

Stanley nahm einen langen Anlauf, sprang in die Luft und landete elegant hinter Jenna.

Es war ein herrlicher Sommermorgen. Vor ihnen erstreckten sich die Schaflande, und am fernen Horizont leuchtete die weiße Linie des Meeres, auf dessen Oberfläche die Sonnenstrahlen glitzerten.

Sie ritten auf einem festen Schotterweg, der, unsichtbaren Grenzen folgend, quer durch das Weideland führte, vorbei an Lammgehegen und vereinzelten Schilffeldern und über weiße Bohlenbrücken, die sich über die Kanäle zum Meer spannten. Jenna ließ den Rappen gemächlich im Schritt gehen und hielt jedes Mal an, wenn er ein schmackhaft aussehendes Büschel Gras ausrupfen und im Gehen mampfen wollte. Als die Sonne wärmer wurde und die letzten Nebelfetzen verscheuchte, die noch über den Kanälen schwebten, spürte Jenna, wie die Feuchtigkeit in ihren Kleidern verdunstete, und endlich wurde ihr wieder warm.

Sobald die Kälte der Ödlande von ihr abfiel, konnte sie wieder klarer denken. Und als Erstes dachte sie an Simon. Was würde er jetzt tun? Nervös blickte sie sich um. Die schroffen schwarzen Felsen der Schieferbrüche ragten aus den Schaflanden empor wie Klippen aus dem Meer, und über ihnen schwebte eine graue Wolke, die einen dunklen Schatten warf. Für Jennas Geschmack waren die Ödlande noch immer zu nah. Sie mussten zusehen, dass sie den Abstand vergrößerten.

»Hü, Donner«, rief sie und trieb den Rappen an. Widerwillig fiel er in Trab. Jenna wusste, dass er erschöpft war, aber bis Port war es noch ein langer Tagesritt. Stanley saß vergnügt hinter ihr auf der Kruppe und hielt sich mit der Miene eines erfahrenen Reiters am Sattel fest. Noch einmal drehte Jenna sich um und spähte in Richtung Ödlande. Plötzlich hatte sie das unbehagliche Gefühl, dass ihre Flucht entdeckt war.

Septimus Heap 02 - Flyte
titlepage.xhtml
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_000.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_001.html
karte.xhtml
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_002.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_003.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_004.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_005.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_006.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_007.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_008.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_009.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_010.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_011.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_012.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_013.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_014.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_015.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_016.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_017.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_018.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_019.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_020.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_021.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_022.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_023.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_024.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_025.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_026.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_027.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_028.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_029.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_030.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_031.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_032.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_033.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_034.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_035.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_036.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_037.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_038.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_039.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_040.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_041.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_042.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_043.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_044.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_045.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_046.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_047.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_048.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_049.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_050.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_051.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_052.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_053.html
Septimus Heap 02 Flyte 01_split_054.html